In vielen Bildungssystemen weltweit überwiegt die Segregation. Wie Inklusion an Schulen umgesetzt werden kann, zeigen einzelne Projekte.
Gemeinsam lernen – egal ob ein Kind eine Behinderung hat oder nicht. Das Recht auf inklusive Bildung wird in Artikel 4 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 bekräftigt. Kinder mit Behinderungen haben das Recht auf aktive Teilhabe am allgemeinen Schulsystem. Gemeint ist der gleichberechtigte Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung, und zwar von der frühkindlichen Förderung bis zur Hochschule. Auch im Rahmen der globalen Nachhaltigkeitsziele der UN bekennen sich Länder weltweit zu „inklusiver, chancengerechter und hochwertiger Bildung“ für alle Menschen.
Dennoch überwiegt laut Unesco nach wie vor die Segregation.
Bildungssysteme seien immer nur in dem Maße inklusiv, wie sie erschaffen werden, heißt es im Weltbildungsbericht. Barrieren zu qualitativ hochwertiger Bildung sind oft tief verwurzelt und eine Folge von gesellschaftlicher und politischer Diskriminierung, Stigmatisierung und Etikettierung. Kindern einen Stempel aufzudrücken, kann ihnen Entwicklungschancen verbauen. Hat ein Kind in Österreich etwas den Zusatz „SPF“ (Sonderpädagogischer Förderbedarf) im Abschlusszeugnis stehen, wird es Schwierigkeiten haben, sich beruflich zu verwirklichen.
Mehrfache Ausgrenzung. Inklusion beschränkt sich laut Weltbildungsbericht 2020 der Unesco allerdings nicht auf Lernende mit diagnostiziertem Förderbedarf, sondern schließt alle Menschen mit ein. Denn dieselben Ausgrenzungsmechanismen hindern auch andere Gruppen am Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung: aufgrund von Geschlecht, Wohnort, Armut, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Religion oder Aufenthaltsstatus.
In vielen Fällen überschneiden sich diese Merkmale zusätzlich. Menschen erleben Mehrfachdiskriminierungen, etwa aufgrund von Behinderung und Geschlecht. Ursula Miller von der Organisation „Licht für die Welt“ hebt außerdem den Zusammenhang zwischen Armut, mangelnder Gesundheitsversorgung und Behinderungen bei Kindern am Beispiel Äthiopien hervor. Armut kann auch die Ursache für Behinderung sein, etwa durch Komplikationen bei der Geburt, Mangelernährung, oder indem der Förderbedarf von Kleinkindern nicht früh genug erkannt wird.
Inklusive Bildung sei daher nicht nur im Schulkontext zu sehen, sondern ein gesellschaftliches Thema.
Abseits der Wahrnehmung. „Es braucht nicht nur Förderung der Kinder, sondern auch Aufklärungskampagnen, um die Menschen zu sensibilisieren“, betont Gottfried Mernyi, Geschäftsführer der Kindernothilfe Österreich. Er nennt das Beispiel Sambia, wo Kinder als für die Altersversorgung der Eltern verantwortlich gesehen werden. In vielen Fällen werde erwartet, dass ein Kind als Erwachsener für den Lebensunterhalt der Familie sorgt. Kinder mit Behinderungen werden daher als Unglück gesehen. Das kann dazu führen, dass sie vor der Öffentlichkeit versteckt werden und nicht am Dorfleben partizipieren dürfen. Abgesehen von den Folgen für die Kinder führe die mangelnde öffentliche Präsenz von Menschen mit Behinderung dazu, dass deren Bedürfnisse vielfach nicht erkannt werden.
Die „Archie Hinchcliffe Disability Intervention“ (AHDI), eine Partnerorganisation der Kindernothilfe in der sambischen Hauptstadt Lusaka, versucht hier Aufklärungsarbeit und Unterstützung zu bieten. Kinder und Jugendliche erhalten im Rahmen eines Projekts zum einen Physiotherapie, andererseits Vorschulunterricht, der rund 380 Kinder auf die Grundschule vorbereiten soll. Neben der direkten Förderung für die Kinder gibt es auch berufliche Schulungen für Familienangehörige oder Freiwillige aus der Nachbarschaft, um zusätzliche Einkommensquellen zu schaffen.
Versteckte Exklusion
Exklusion beginnt in Österreich bei der Erhebung von Daten. So sind Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) in den Kompetenzstandard-Überprüfungen für den nationalen Bildungsbericht nicht berücksichtigt. Bei diesen Überprüfungen werden die Lernergebnisse von Schüler*innen der 4. und 8. Schulstufen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch erfasst. Ziel sei die Qualitätsentwicklung und -sicherung in der Schule. Das sei versteckte Exklusion, kritisiert Bildungswissenschaftlerin Susanne Schwab von der Universität Wien. „Nicht einmal in unseren Daten sind diese Kinder erwähnt.“
Anstatt Ungleichheiten zu kompensieren, werden in unserem Schulsystem laut Schwab Ungerechtigkeiten reproduziert. Beispiel Deutschförderklassen: Kinder werden auf ihre fehlenden Deutschkenntnisse reduziert und ausgeschlossen, anstatt ihre Mehrsprachigkeit als Stärke zu sehen. Die Folgen seien gravierend, gerade in Zeiten einer Pandemie. Dass Deutschförderklassen aus bildungswissenschaftlicher Sicht eine „Katastrophe“ seien, zeige die Evidenz ganz klar. Schwab: „Die politischen Interessen gelten mehr als die pädagogischen.“ M. W.
Es geht alle an. Die Idee von inklusiver Bildung beinhaltet das gemeinsame Lernen aller Kinder. „One Class for All“ heißt daher ein Programm, das „Licht für die Welt“ u.a. in Äthiopien umsetzt. Dabei lernen nicht nur gehörlose und schwerhörige Kinder die äthiopische Gebärdensprache, sondern alle Beteiligten im schulischen Umfeld: Mitschüler*innen, Lehrer*innen und Familienmitglieder.
Inklusive Bildung ist Teil der äthiopischen Bildungsstrategie. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, dass statt aktuell vier Prozent der Kinder mit Behinderungen 75 Prozent inklusive Bildung erhalten sollen. Ein Weg dahin liegt in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte in inklusiver Pädagogik, die gefördert werden soll. Die Umsetzung scheitert vor allem an Ressourcenknappheit, schildert Miller von „Licht für die Welt“.
Ausgrenzung entsteht generell, wenn Diversität und Vielfalt von Bedürfnissen nicht berücksichtigt werden. Wenn sie nicht als Potenzial, sondern als Hindernisse betrachtet werden. Sie entsteht mit der Definition dessen, was als Norm gilt und was als Abweichung davon. „Das Konzept der Barriere für Teilhabe und Lernen sollte das Konzept der besonderen Bedürfnisse ablösen“, heißt es im Unesco-Weltbildungsbericht 2020.
In bildungspolitischen Dokumenten Südafrikas wird etwa von „Lernbarrieren“ gesprochen, definiert als „all jenes, das die Kinder daran hindert, effektiv zu lernen“. Damit wird anerkannt, dass Barrieren gesellschaftliche und systemische Gründe haben. Eine Perspektive, die im österreichischen Inklusionsverständnis nicht verankert ist, so Bildungswissenschaftlerin Susanne Schwab von der Universität Wien. Lernbarrieren werden hierzulande vor allem in den Kindern selbst gesehen (vgl. Kasten).
Ein wesentliches Hindernis für inklusive Bildung sei die mangelnde Überzeugung, dass sie möglich und notwendig sei. Dabei ist sie als gesamtgesellschaftlicher Auftrag zu sehen. Werden in den Schulen verschiedene didaktische Methoden angewandt, können alle davon profitieren. Ein wichtiger Schritt zum übergeordneten Ziel einer egalitäreren, weniger diskriminierenden Gesellschaft.
Marina Wetzlmaier ist freie Journalistin und lebt in Wels/Oberösterreich.
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